In Österreich gibt es seit 2019 eine neue Partei, die in diesem Jahr zum ersten mal zur Landtags und Gemeinderatswahl antritt. Sie heißt SÖZ, Soziales Österreich der Zukunft. Söz ist aber auch ein türkischer Begriff, der „Wort“ oder „Versprechen“ bedeutet. Die Doppelbedeutung dürfte kein Zufall sein, denn viele Mitglieder und Kandidaten sind türkischer Herkunft, die meisten sind Österreicher mit migrantischem Hintergrund der 2. oder 3. Generation.
Spitzenkandidaten sind Hakan Gördu, ein 1984 in Wien-Favoriten geborener Sohn einer Gastarbeiterfamilie, der einen Master in Innovations und Technologiemanagement besitzt und jetzt Unternehmer ist, sowie die Energie und Umweltingenieurin Martha Bißmann, achtes von neun Kindern österreichischer Eltern und ehemals Abgeordnete der grünen Liste Pilz im österreichischen Bundesparlament.
Obwohl es nicht dem Selbstbild von SÖZ entspricht und auch nicht den beiden Spitzenkandidaten, wird sie oft als Migrantenpartei bezeichnet, was durchaus abschätzig gemeint ist. Die Kombination der Wörter Türke und Migrant sorgen für Kaskaden von abrufbaren Denkmustern. So etwa: Wollen die Türken eine eigene Partei in Österreich gründen? Sind die Nicht-Migranten, die mit antreten, nur ein Feigenblatt?
Steckt Erdogan hinter SÖZ? Sind das Islamisten im Schafspelz? Islamische Traditionalisten? Warum haben einige weibliche Kandidaten Kopftücher auf? Andere nicht? Das passt alles gut ins übliche Schema. Anderes nicht. Warum sind mehr als die Hälfte der Kandidaten Frauen? Wieso sind Umweltpolitik und der Klimawandel ein Hauptanliegen? Bildung ist wichtig, gut, das sagen alle. Aber warum ist das so ein wichtiges Thema für SÖZ? Meinen die damit Islamschulen? Für das bedingungslose Grundeinkommen treten die ein, um sich in die soziale Hängematte legen zu können, klar. Sie reden vom Märchen des ewigen Wirtschaftswachstums, von Umverteilung und dass die soziale Frage wieder gestellt werden muss. Sind diese Islamisten etwa Kommunisten?
Man kann es auch rational erklären. Weil viele Mitglieder von SÖZ, nicht nur die mit Migrationshintergrund als Unterschichtkinder aufgewachsen sind, gehört Bildung zu ihren Hauptanliegen. Sie legen Wert auf ein soziales Miteinander, die Familie ist bei vielen Migranten das soziale Sicherungsnetz, das sich in Coronazeiten als belastbarer erweist als das Single-Dasein des Metropolen-Wieners. Weil sie erlebt haben, dass die Sozialdemokraten sie nach den Wahlen schnell vergessen haben, wollen sie Sozialdemokratie für alle. Weil sie rassistische Anfeindungen als Lebenserfahrung mitbringen, ist ein rassismusfreies Wien für sie ein Dauerthema. Weil sie in einer Großstadt leben, beschäftigen sie sich mit Kreislaufwirtschaft, Luftqualität und Lärmbelastung.
In einer Stadt wie Wien, wo nach groben Schätzungen jeder zweite Einwohner einen Migrationshintergrund hat, schließlich war die KuK Monarchie eine ziemlich gut funktionierende Multikulti-Staatsform, gibt es Bio-Österreicher, die gar nicht wissen, dass sie gar nicht Angehörige eines sortenreinen Stammes sind, sondern Migranten in der 5. oder 9. Generation.
Aus deutscher Sicht ist Österreich ist ein merkwürdiges Land. Vielen Österreichern fällt nicht auf, was fast alle Deutschen bemerken, wenn sie sich abseits der Skipisten aufhalten. Da ist irgendwie mehr möglich in Österreich. Es geht allgemein beweglicher und weniger besserwessiartig zu als in Piefkeland. In den Talkshows wird härter diskutiert, das Meinungsspektrum ist nicht ideal weit, aber größer als im ZDF. Es gibt mehr Schmäh, aber auch mehr Diskurs. Es gibt sogar eine kommunistische Partei, die in Graz heftig gewählt wird, weil sie bessere sozialdemokratische Politik macht als die Sozialdemokraten. In Österreich ist mehr Leben und Leben lassen. Liegt es an den Kaffeehäusern? Die es immer noch gibt, trotz der US-Franchisingwüsten, die sich auch in Wien ausgebreitet haben wie ein böses Virus? Wer je in Wien im plüschigen Kaffehaus gefrühstückt hat, oder dort abends mit Freunden einen Tafelspitz gegessen hat, entzündet abends im Hotelzimmer eine imaginäre kleine grüne Kerze des Neides und fragt sich, warum die Österreicher haben, was wir nicht haben.
Vieles wird schneller von der Möglichkeit zur Wirklichkeit in Österreich. Der erste populistische Rechtsruck entstand in Österreich mit der FPÖ, die bereits 1983 in einer Bundesregierung vertreten war. Damals zum Entsetzen der bundesdeutschen Presse. War nicht auch Hitler zuerst Österreicher? Und war er nicht angewidert von all den vielen Kulturen, die dort zusammentrafen und den vielen Sprachen, die man in Wien hören konnte? Eine frühe Form von Multi-Kulti-Allergie, die im Massenmord endete. War es wieder soweit?
Man betrachtete gerne von oben herab. Als Oberlehrer. Das ist die Attitüde, die deutsche Journalisten beim Volontariat erlernen und sie die sich mit jeder erklommenen Sprosse der Karriereleiter verfestigt. Bis sich dann im Endstadium die Fregatte „Arroganz“ mit geblähten Segeln in heimischen Gewässern bewegt. Dieses Endstadium nennt man Chefredaktion und Mitgliedschaft in der Atlantikbrücke, dem American Enterprise Institut oder dem German Marshall Fund.
Tja, Österreich ging nicht unter und mit Verspätung entstand dann auch in Deutschland die AfD. Die deutsche Antwort auf die FPÖ. Mit der Lizenz zum beleidigten Besserwissen. In deren Reihen, wie bei der FPÖ, ebenso betroffen wie gründlich über die Gefahren der Parallelgesellschaften nachgegrübelt wird, über die Bedrohung durch eine totalitäre Religion, über Bevölkerungsaustausch und wie man sich als Fremder im eigenen Land fühlt.
Letzteres verstehen die Mitglieder von SÖZ sehr gut. Schließlich werden sie als Kinder gebürtiger Wienern oft gefragt, wo sie eigentlich herkommen. Also in Wirklichkeit. Weil, so braun ist doch kein Österreicher. Na gut, das kann man missverstehen, aber hier ist die Gesichtsfarbe gemeint.
Wenn man zu überschießendem gutem Willen und Optimismus neigt, könnte man sagen, dass es doch supertotalgut integrationsmäßig ist, wenn Menschen aus Migrantenfamilien das Gemeinwesen mitgestalten wollen. Wenn sie sich nicht nach rückwärts orientieren, um eine imaginäre bessere Vergangenheit wiederzubeleben. Nein, ich meine nicht „Make America Great Again“. Ich meine die Vorstellung eines goldenen Zeitalters des Islam, die durch genaue Imitation alter Regeln wiederhergestellt werden soll. Die SÖZ Migranten und Nicht-Migranten sind doch wahrhaftig, wenn auch vermutlich unwissentlich, Gefolgsleute des Perikles von Athen, der um 450 vor Christus sagte: „Wer an den Dingen seiner Gemeinde nicht Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger“. Und dann noch auch noch „Nur Wenige sind fähig, eine politische Konzeption zu entwerfen und durchzuführen, aber wir sind alle fähig, sie zu beurteilen.“ Die SÖZ Leute wollen nicht nur Anteil an den Dingen ihrer Gemeinde nehmen, sie versuchen auch noch eine lebensfähige politische Konzeption zu entwerfen. Ihre Denkrichtung geht in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Das ist doch wirklich!– nein. Nicht die Höhe sondern ziemlich gut und demokratisch, oder?
Wenn man statt zu Optimismus zu Minderwertigkeitskomplexen neigt, könnte man auf folgenden Gedanken kommen: Warum passiert das nicht in Berlin Neukölln, sondern in Wien?
Wenn man dazu neigt, nach dem Haar in der Suppe zu suchen, könnte man auf die Idee kommen, dass das alles nur Absichtserklärungen sind. In Wirklichkeit geht es doch wahrscheinlich insgeheim um die schleichende Islamisierung. Warum distanzieren sich die Kandidaten zum Beispiel nicht vom Kopftuch? Dem Symbol der Unterdrückung der Frau im Islam? Das habe ich den Pressesprecher der SÖZ Partei gefragt, Stefan Bartunek. Seines Zeichens Bio-Ösi und in Wikipedia von Kopilot, Feliks und Phi als Anhänger rechtspopulistischer, verschwörungstheoretischer, rassistischer – na ja, sie kennen das. Wikipedia halt. Und jetzt in der Migranten Partei. Was sich dazu wohl die Wikipedia-Junta aus den Fingern saugen wird? (Disclaimer – Ich bin mit Stephan Bartunek befreundet, er hat den „Wikihausen Kongress“ von Markus Fiedler und mir organisiert und war mehrmals mit ihm in einem Kaffehaus. Hiermit tue ich kund und zu wissen: Stephan Bartunek ist Schauspieler und neigt genausowenig wie der RocknRoller Ken Jebsen zum Spießertum. Anders als Kopilot, Feliks und Phi.)
O-Ton Bartunek: „Das ist eine religiöse Geste, aber eine unserer Kandidatinnen, die ein Kopftuch trägt, ist Ärztin mit eigener Praxis. Das ist nicht so einfach einordenbar. Viele junge Muslima bei uns tragen das, wie die Punks früher die Irokesenfrisur. Sie werden ständig wegen des Kopftuchs angemacht, auch sehr übel, die Mutigeren kultivieren das deshalb. Sie gehen mit Adidastrainingsjacke und Kopftuch auf die Straße. Absichtlich. Das hat schon lustige Gespräche an den Wahlständen gegeben, wenn die Wiener ihre Erwartungen und die Antworten nicht zur Deckung bringen konnten. Erstaunlich vielen gefällt das aber.“
Es ist eine merkwürdige Sache mit dem Ansehen anderer Religionen. Der Islam wird als bedrohlich und gefährlich eingeschätzt. Syrien aber klingt in unseren Ohren nicht nach dem friedlichen Zusammenleben der Religionen, für das es einmal berühmt war. Das Land und seine Kultur haben nicht viele Fürsprecher im Kulturestablishment, die „Hände weg von Syrien“ fordern.
Aber für Tibet und den Buddhismus engagieren sich ganze Heerscharen von Hollywoodstars. Es ist ein Sehnsuchtsort, der Mythos von Shangri La, eines von hohen Bergen umgebenen Refugiums, in dem hunderte Jahre alte Mönche die geistigen Schätze der Menschheit hüten, verstellt bis heute den Blick auf die historische Realität.
In Tibet gab es bis zum Einmarsch der Chinesen Leibeigenschaft. Nicht vereinzelt, sondern flächendeckend. In den Klöstern gab es Folterkammern. In Tibet wurden flüchtigen Sklaven oder Dieben auf Anordnung von Mönchen die Augen ausgerissen, die Sehnen durchtrennt und Gliedmaßen abgehackt. Vergewaltigungen von männlichen Novizen und weiblichen Bediensteten durch den Gelugpa Klerus waren an der Tagesordnung. Es gab brutale Machtkämpfe verschiedener Lamas um die Vorherrschaft. Bis in die jüngste Vergangenheit war Tibet eine Klassengesellschaft wie es sie im europäischen Mittelalter gab. Was zum Beispiel auch Peter Scholl Latour im soeben dargestellten Sinn kritisch kommentierte.
Der jetzige Dalai Lama passt nicht in dieses sehr negative Bild, stimmt, aber es passt auch nicht in sein positives Bild, dass er mit der CIA und von ihr auch persönlich finanziert einen Guerillakrieg gegen die Chinesen organisierte, was er erst zugab, als die CIA dazu Dokumente veröffentlichte. Es passt eine ganze Menge nicht in dieses Bild. So sagte der US Historiker Howard Zinn: „Ich habe den Dalai Lama immer wegen seiner Plädoyers für Gewaltlosigkeit und seiner Unterstützung der tibetischen Rechte gegen die chinesische Okkupation bewundert. Aber ich muß sagen, ich war enttäuscht, als ich mir seinen Kommentar zum Irakkrieg angesehen habe, denn das ist eine so offensichtliche und klare moralische Angelegenheit, bei der massive Gewalt gegen die Iraker ausgeübt wurde, was Tausende von Toten zur Folge hatte.“. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte ironisch das Verhalten des Tibeters als die Taktik „eines Interessenpolitikers, der weiß, wer ihm die Butter aufs Brot streicht“
Die unterschiedliche Haltung zum Islam, der verschiedene Ausprägungen hat, von den geradezu „buddhistischen“ Sufis bis zu den brachialen Wahabiten reicht, und dem Buddhismus, der von der gewaltlosen Lehre des Gautama Siddharta bis zum tibetischen Gelugpa System reicht, ist aus sich selbst nicht erklärbar.
Die extrem diversen Beurteilungen haben sicher damit zu tun, welche geopolitischen Machtinteressen damit verbunden sind. Was gut an der Beurteilung der Uighuren zu erkennen ist. Sie sind Muslime, aber über sie wird in westlichen Medien ähnlich fürsorglich berichtet, wie über die tibetischen Buddhisten. Bei beiden Völkern liegt der Fokus auf Menschenrechtsverletzungen der Chinesen, die Uighuren haben sozusagen den Tibet-Bonus statt des Islam-Malus. Weil beide Völker gegen China genutzt werden können.
Der Islam wurde im Rahmen des unipolaren Machtanspruches der USA zum Feindbild des Westens, zum neuen Erzfeind, nachdem die Sowjetunion dafür nicht mehr zur Verfügung stand.
Die Auswirkungen dieser Frontstellung und der damit verbundenen Kriege reichen bis in unsere europäischen Städte.
Leben und leben lassen, diese Grundmaxime könnte in Wien eine neue, zukunftstaugliche Ausprägung erhalten.
Die SÖZ Partei aus Wien ist nicht aus geopolitischen Motiven entstanden, sondern aus praktischen Fragen des Zusammenlebens in Wien. Ihre Bedeutung könnte aber weitaus größer werden als die Kommunalpolitik der österreichischen Hauptstadt.
Auch die Entspannungspolitik der Sozialdemokraten entstand aus praktischen Erfordernissen des Zusammenlebens in Berlin nach dem Mauerbau. Das haben Egon Bahr und Willy Brandt stets betont. Die Mauer sollte absolut trennen. Trotzdem gab es zehntausende Berliner, die aus praktischen Gründen im beidseitigen Interesse die Grenze überqueren mussten. Der Grenzverkehr musste organisiert werden. Und dazu mussten beide Seiten miteinander verhandeln. Die Verhandlungen führten in kleinen Schritten zu Verständigung. Sie konterkarierten die politische Absicht der Abschottung. Die Möglichkeit der Verhandlungen nutzten Brandt und Bahr zu immer weitergehenden Dialogen, auch über Außen- und Sicherheitspolitik, auch mit anderen Staaten des Warschauer Paktes. Politik ist die Kunst der kleinen Schritte und der großen Ideen, die sie lenken.
SÖZ ist eine kleine, noch unbedeutende Partei, die in Wien etwa 3% der Stimmen erhalten könnte. Aber die Gründung und Existenz einer Partei des Zusammenlebens ist ein gutes Signal. Da könnte noch einiges auf uns zukommen. Ausnahmsweise etwas Gutes.